Ein bisschen fremd sind sie mir ja schon noch

Kennt ihr das? Das letzte Kapitel des Manuskripts, an dem ihr seit einigen Monaten gearbeitet habt, ist endlich fertig. Die Ideen für den neuen Roman wurden über Monate hinweg gesammelt, die Protagonisten, Nebenfiguren und Antagonisten bis ins letzte Detail ausgearbeitet und die Handlung steht fest. Ihr legt also los. Die Seiten füllen sich mit Worten, mit Sätzen und Abschnitten. Am ersten, am zweiten Tag seid ihr voller Tatendrang. Doch am dritten stellt ihr vielleicht fest, dass ihr euch in eurer neuen fiktiven Welt mit euren Protagonisten ein wenig fremd vorkommt.

Mir passiert es immer wieder. Wenn ich anfange, einen neuen Roman zu schreiben, dann packt mich zunächst dasselbe Schreibfieber wie in den Tagen, in denen ich kurz davor bin, eine Geschichte abzuschließen. Am ersten Tag schaffe ich 5 bis 7 Seiten. Mein normales Arbeitspensum liegt für gewöhnlich bei 3 Seiten pro Tag. Am Wochenende hingegen, d.h. von Freitag bis Sonntag, schaffe ich insgesamt 15 Seiten. Nach dem – ich würde behaupten – Schreibwahn, der mich am ersten Tag gepackt hat, tritt zwar kein Schreibkater ein, aber in den nächsten Tagen stellt sich ein leichtes Fremdlichkeitsempfinden ein.

Familientreffen

Es ist ein bisschen wie die bevorstehende Versammlung der Verwandtschaft anlässlich des 80. Geburtstags des Großvaters: Man freut sich darauf, ein paar Worte mit Onkel Friedrich zu wechseln, der als Reisejournalist viele spannende Geschichten zu erzählen hat, auf den sportlichen und extrovertierten Cousin Lukas, mit dem man letztes Jahr auf einem Rockkonzert gewesen ist, auf die sozial engagierte, energiegeladene Silvia, die Cousine zweiten Grades, ja sogar auf die schrullige Großcousine Mathilde. Da trifft man sich in einem Wirtshaus, da werden Hände geschüttelt und Küsschen in die Luft gehaucht. Man will sich mit dem ein oder anderen unterhalten. Doch da man die meisten seit einem Jahr nicht gesehen hat, will die Stimmung in den ersten Stunden nicht richtig aufleben.

Oder es kommt einem so vor, als sei man gerade erst umgezogen. Man hat zwar schon die Möbel aufgestellt, alle Kartons ausgepackt und die Regale bestückt. Mittlerweile weiß man sogar in der Dunkelheit, dass der Kühlschrank am anderen Ende des Raumes zu finden ist. Man hat sich auch an die Orchideen auf dem Fenstersims und das blühende Grün im Wohnzimmereck gewöhnt. Trotzdem hat man das Gefühl, noch nicht richtig zu Hause angekommen zu sein.

Das Kennenlernen

Ein neues Manuskript eröffnet das Tor zu einer neuen Welt, die mit unterschiedlichen Menschen (und / oder Lebewesen) bevölkert ist. Obwohl man die Figuren kennt, weil man sich mit ihrem Hintergrund, ihren Vorlieben etc. beschäftigt hat, so entfaltet sich ihr wahres Wesen erst im Laufe der Geschichte. Indem man kontinuierlich am Manuskript arbeitet, lernt man in diversen Situationen viele ihrer Facetten kennen.

Ich habe festgestellt, dass ich etwa 40 Seiten brauche, um mich in der fiktiven Welt mit den Protagonisten wohlzufühlen. Pausen von mehreren Tagen erweisen sich diesbezüglich als kontraproduktiv, weil sie den Prozess des sich „Hineinlebens“ verlängern. Deshalb lege ich nach Möglichkeit keine ein, bevor ich nicht die ersten hundert Seiten verfasst habe.

Posted on: 13. Februar 2020Carolina

2 Gedanken zu „Ein bisschen fremd sind sie mir ja schon noch

  1. Hallöchen!

    Na, kennst du mich noch? ;D

    Am Anfang dachte ich, dass du darüber redest, wie schnell eine neue Idee an Glanz verliert, aber schnell wurde klar, dass du in Wirklichkeit die Charaktere meinst, die bei dir Zeit brauchen, bevor sie dir vertraut vorkommen. Deine Vergleiche, mit denen du deutlich gemacht hast, wie genau sich diese Befremdlichkeit anfühlt, waren sehr gut.

    Auch bei mir kommen die wahren Facetten der Charaktere erst während des Schreibens zum Tragen, aber dieses Gefühl des „sie sind mir noch fremd“ hatte ich bisher noch nie; selbst, wenn einige Charakterzüge letztendlich ganz anders sind, als ich zuerst dachte, finde ich mich meist schnell damit zurecht. Vielleicht, weil ich, sofern ich an einer Geschichte sitze, jeden Tag sehr viel schreibe und deshalb gar keine Zeit habe, über ein Fremdgefühl nachzudenken? Ich weiß es nicht genau.

    Man könnte es vielleicht mit dem Zusammenziehen mehrerer Personen vergleichen – dank bisheriger Treffen kennen sie sich bereits grob und lernen sich nach dem Zusammenziehen nun richtig kennen, mit positiven und negativen Charaktereigenschaften, die aber nicht für ein Fremdgefühl sorgen, weil sie nicht so massiv anders sind als die ersten Eindrücke, die man sich bisher gebildet hat 🙂 Ich liebe es auf jeden Fall, wenn während des Schreibens neue Details über meine Charaktere herauskommen ^_^

    Freue mich schon auf ein nächstes Kapitel! Hoffentlich sehe ich dieses dann ein wenig schneller ^.~

    Liebe Grüße!
    Tatjana

  2. Liebe Tatjana,

    ich freue mich, dass du mich gefunden hast! Herzlich willkommen auf meiner Seite. 🙂
    Dein letzter Abschnitt gefällt mir sehr gut. Er ist eine wunderbare Ergänzung zum Blogeintrag. Besser hätte ich es nicht formulieren können.

    „Ich liebe es auf jeden Fall, wenn während des Schreibens neue Details über meine Charaktere herauskommen ^_^“
    So geht es mir auch. Manche Figuren werden manchmal erst im Laufe der Geschichte besser abgerundet, oder überraschen mich, weil sie sich anders entwickeln, als ich es mir vorgestellt habe.

    Das nächste Kapitel werde ich zeitnah veröffentlichen. Dieses Mal geht es um das Thema „Setting“.

    Herzliche Grüße

    Carolina

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert