Das Handwerk im Wandel

Das Handwerk im Wandel

Die Erzählstruktur und -weise befinden sich permanent im Wandel. Mal stärker, mal kaum spürbar. Stets gibt es Autoren, die die vorhandenen Strukturen ein wenig auflockern und sie verbiegen, die kleine Experimente wagen. Was über die Stränge schlägt, schlägt aus wie ein Seismograf, hinterlässt aber nicht immer bleibende Spuren, sodass manch ungewöhnliche Versuche, die Struktur nachhaltig zu beeinflussen, wenn nicht sogar umzukrempeln, letzten Endes ins Leere laufen. Doch manche literarischen Experimente setzen sich durch, stecken einen Schriftsteller nach dem anderen an und verändern nachhaltig das Schreibwesen.

Verschiedene Formen, die die niedergeschriebenen Geschichten im Laufe der Zeit angenommen haben, haben ihre Daseinsberechtigung, denn sie spiegeln den Zeitgeist wider. Permanente Erreichbarkeit, dauerhafte Vernetzung, Eile und Hast haben der Literatur das sanfte Hineingleiten in die Geschichte vor Jahren genommen. Sie werfen die Leser mitten ins Geschehen und lassen ihn im kalten Wasser zappeln. Sie haben den Roman von zwei Geschichten in einer, d.h. der Einbettung einer Geschichte in eine weitere befreit, sodass die Leser gleich in eine fiktive Welt eintauchen, ohne einem Erzähler, also einer fiktiven Figur zu lauschen, die sie auf eine Reise mitnimmt.

Zeigen soll man – nicht länger beschreiben. Die Wortmenge in einem Satz auf eine bestimmte Anzahl begrenzen. Sparsam mit Adjektiven umgehen, wenn nicht sogar auf Vergleiche zurückzugreifen, um sie zu vermeiden. Auf Füllwörter möglichst verzichten. – Das sind eigentlich keine Regeln, obwohl sie vielleicht diesen Anschein erwecken, sofern sie mit genug Nachdruck geäußert werden, sondern viel mehr Trends, wenngleich langanhaltende Trends. In der Literatur gibt es weder Richtig noch Falsch. Eine Aneinanderreihung von Sätzen, die aus zwei, drei Worten bestehen, erschwert vielleicht das Lesen, erfüllt jedoch eine Funktion: Sie hebt etwas hervor, sie beschleunigt das Tempo, oder sie entpuppt sich als ein Ausdruck künstlerischer Freiheit.

Was mir besonders in den letzten Jahren aufgefallen ist, möchte ich in diesem Kapitel auflisten und mit einigen, relativ aktuellen Beispielen untermalen.

Dialoge


In J. P. Delaneys The Girl Before – Sie war wie du. Und jetzt ist sie tot. bin ich wieder auf eine Form, Dialoge zu verarbeiten, gestoßen, wie ich sie vor einigen Jahren bereits in Lilian Lokes Gold in den Straßen gesehen habe: Dialoge werden nicht mehr als solche gekennzeichnet. The Girl Before erzählt die Geschichte von zwei Frauen, die nicht nur die Tatsache vereint, dass sie in dasselbe Haus ziehen, in dem Minimalismus und strikte Ordnung herrschen, oder dass sie sich in denselben Mann verlieben. Nach einem schweren Schicksalsschlag zieht Jane in ein ultramodernes Gebäude in einem Londoner Stadtteil und beginnt eine Affäre mit Edward Monkford, dem Architekten des ungewöhnlichen Hauses. Als sie erfährt, dass ihre Vorgängerin, Emma, zu früh aus dem Leben gerissen wurde, ist ihre Neugier geweckt. Auf der Suche nach der Wahrheit stellt sie fest, dass ihr die junge Frau ähnlichsah, und dass auch sie sich auf eine Liaison mit Monkford eingelassen hat.

Der Brite, der sich hinter dem Pseudonym J. P. Delaney verbirgt, nimmt sich die Freiheit heraus, diese in einem der beiden Handlungsstränge seiner Protagonistinnen praktisch durchgehend ohne Anführungszeichen aufzuführen. In einer Amazon-Rezension habe ich die Bemerkung gelesen, dass dieser Stil als Kunstgriff verstanden werden kann, der dazu dient, die Grenzen zwischen Gedanken und gesprochenen Worten der Beteiligten zu verwischen. Das passt exzellent zu Delaneys Protagonistin, die im Verlauf der Geschichte zu überraschen weiß.

Lilian Loke hingegen, die mit ihrem Debut Gold in den Straßen den Tukan-Preis der Stadt München gewonnen hat, hält diesen Stil konsequent durch. In ihrem Roman geht es um den Makler Thomas Meyer. Sein Name mag alltäglich klingen, doch ganz gewöhnlich ist Thomas nicht. Er fühlt seinen Kunden auf den Zahn und vermag, ihre Wünsche in die Tat umzusetzen. Ehrgeizig und zielstrebig steuert Thomas auf die Beförderung zu. Der Tod seines Vaters eröffnet eine weitere Möglichkeit, Geld zu scheffeln: Das Grundstück des geerbten Geschäfts verspricht hohe Gewinne.

Perspektivenkombination und Zeitsprünge


Ich muss gestehen, dass ich kein Fan von mehreren Perspektiven in einem Roman bin. Von einem Handlungsstrang zum nächsten zu springen strengt mich immer wieder an. Zudem befürchte ich, dass mir wichtige Details aus dem Leben der Protagonisten entgehen, wenn ich mal eine Pause von mehreren Tagen einlege, was angesichts diverser Herausforderungen des Alltags nun mal passieren kann. J. P. Delaney verfährt in The Girl Before ziemlich elegant, indem die Stränge von Emma und Jane mit Informationen gespeist werden, die sich immer mehr und mehr überlappen, sich ergänzen und zum besseren Verständnis beitragen.

Im Thriller Good as Gone : Ein Mädchen verschwindet. Eine Fremde kehrt zurück. lässt Amy Gentry ihre Protagonistinnen in der 1. und 3. Person zu Wort kommen. Darin wird die 13-jährige Julie Whitaker eines Nachts aus dem Elternhaus entführt. Acht Jahre später taucht sie vor der Haustür auf. Recht bald verstrickt sie sich in Halbwahrheiten und Lügen, sodass ihre Mutter Anna anfängt, sich zu fragen, ob die junge Frau wirklich ihre Tochter ist. Mit jedem Tag, der verstreicht, wachsen Annas Zweifel.

Amy Gentry wählt einmal die Perspektive von Anna, dann wandert sie zu Julie, bzw. dem Mädchen, das sich als Julie ausgibt, und von dem im Leseverlauf klar wird, dass es unter verschiedenen Namen auftritt. Die weitere Besonderheit des Romans besteht darin, dass der zweite Handlungsstrang chronologisch mal mehr, mal weniger konsequent zurückwandert und die drängende Frage erst nach einigen hundert Seiten beantwortet. Für mich persönlich war diese Erzählweise durchaus innovativ, weshalb ich sie hier unbedingt aufführen muss. Erst gegen Ende harmoniert der Roman, was Tempus und Perspektive angeht.

Anna, die Mutter, meldet sich in der Ich-Form zu Wort. Ihr Erzählstrang wird regelmäßig von einem anderen abgewechselt, in dem in der 3. Person erzählt wird. Mir persönlich erschienen die Perspektivsprünge als etwas exotisch, doch im Laufe des Romans gewöhnte ich mich daran. Dasselbe galt auch für den permanenten Wechsel von der Gegenwart in die Vergangenheit. Der Erzählstrang im Präsens erzeugte den Eindruck, man sei mitten im Geschehen im Hier und Jetzt – unabhängig davon, wann man das Buch zur Seite legte und es wieder in die Hand nahm -, wodurch die Spannung aufrechterhalten wurde.

Alles eine Frage der Gewohnheit


Ihr seht, die moderne Literatur experimentiert gern – solange der Verlag es gestattet. Die Ergebnisse mögen nicht jedermanns Geschmack entsprechen. Gewöhnungsbedürftig erscheinen sie uns, wenn sie uns mit Unkonventionellem konfrontieren. Vielleicht sogar unbequem, sobald sie uns Leserinnen und Leser auffordern, uns von herkömmlichen Mustern und Regeln zu entfernen. Aber sie bringen nicht selten Abwechslung und somit frischen Wind in die Regale der Buchhandlungen.

Posted on: 23. Oktober 2019Carolina

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